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Adventkalender – 11. Tag

Heute war das Vorsingen. Giulia stand im Badezimmer vor dem Spiegel. In ihrer Hand hielt sie die Schere. Mama war mit dem Rad nach Terni gefahren, Francesco arbeitete noch und Giovanni lag in seinem Bett und döste. Er war noch immer so müde, dass er fast den ganzen Tag schlief.

Giulia betrachtete ihr Gesicht. Zwei lange schwarze Zöpfe umrahmten es. Sie hatte die längsten Zöpfe in der Dorfschule, und sie war immer so stolz darauf gewesen. Anna hatte seit einer Woche beinahe eine Glatze, so kurz hatte Annas Mutter die Haare abgeschnitten, weil sie Läuse darin entdeckt hatte. Die Kinder hatten sie deshalb am ersten Tag arg verspottet und Anna hatte geweint.

Giulia schluckte. Wenn sie ein Bub sein wollte, mussten ihre Zöpfe weg, musste ihre Frisur genauso kurz werden wie Annas. Sie musste so tun, als hätte sie auch Läuse bei sich entdeckt.

Langsam führte sie die Schere zum ersten Zopf, sie schloss die Augen und schnitt. Dann der zweite Zopf. Als beide weg waren, stand ihr Haar kurz und struppig nach allen Richtungen. Giulia betrachtete sich kritisch. Sah sie bereits wie ein Bub aus, oder nur wie ein Läusemädchen? Vorne waren die Stirnfransen noch viel zu lang. Die mussten auch ab. Entschlossen hackte sie mit der Schere in ihrem Haar herum. Immer kürzer und kürzer, bis sie zufrieden war.

Sie warf das Haar, bis auf die beiden Zöpfe, auf den Kompost im Garten. Die beiden Zöpfe versteckte sie in ihrer Kommode unter den Socken und Unterhosen.

Dann schlich sie in das Zimmer von Francesco und Giovanni.

Sie warf einen Blick auf den kleinen Bruder. Er schlief. In der untersten Lade des großen Schrankes hob die Mutter Francescos Gewand auf, weil es irgendwann einmal auch Giovanni passen würde.

Giulia zog die Lade auf und wühlte zwischen den Hosen, Hemden und Pullovern, bis sie etwas gefunden hatte, das ihr passte. Gerade wollte sie das Zimmer mit dem Bündel verlassen, als Giovanni sagte: „Wer bist du? Was machst du in meinem Zimmer?“

Giulia fuhr erschrocken zusammen.

Dann trat sie näher an Giovannis Bett heran.

„Ach du bist es“, sagte Giovanni überrascht. „Was hast du mit deinen Haaren gemacht? Ich habe geglaubt, ein fremdes Kind steht in meinem Zimmer und will mir etwas klauen.“

 „Ich habe es abgeschnitten“, sagte Giulia.

„Warum?“

„Weil, weil …“ Jetzt müsste sie sagen, dass sie Läuse hatte. Aber irgendwie wollte sie den kranken Bruder nicht anschwindeln. Nein, er sollte ihr Geheimnis kennen. Er sollte wissen, dass sie vorhatte nach Rom mitzufahren, um ihn  wieder gesund zu machen.

„Warte kurz“, sagte sie. „Aber du musst ein großes Geheimnis behalten können. In Ordnung?“

Giovanni nickte gespannt.

Giulia rannte aus dem Zimmer, zog die Bubensachen an und kehrte zu Giovanni zurück.

„Jetzt bin ich ein richtiger Bub, oder?“, fragte sie.

„Aber warum“, flüsterte Giovanni aufgeregt.

„Deinetwegen“, erklärte Giulia. „Der Bubenchor fährt zu Weihnachten nach Rom, um für den Papst zu singen. In Rom gibt es das Santo Bambino, das kranke Menschen, ins besonders Kinder, gesund macht. Ich fahre hin und werde es bitten, dass es dein Herz heilt. Dann  kannst du wieder zur Schule gehen, herum laufen und spielen, wie alle anderen auch.“

„Nach Rom, für mich?“

„Ja!“

Giulia sah, wie Giovannis Augen zu leuchten anfingen.

„Und dieses Santo Bambino wird mich gesund machen?“

Giulia nickte.

„Wenn ich es bis nach Rom schaffe, was an sich schon ein Wunder ist, dann wird es dich gesund machen, wenn ich es persönlich bitte.“

„Das wäre schön“, sagte Giovanni sehnsüchtig. „Das wäre so schön.“

„Ganz gewiss wird es dich gesund machen“, versprach Giulia. „Aber du darfst es niemandem verraten. Und wir müssen so tun, als hätte ich auf meinen Haaren Läuse entdeckt und sie deshalb abgeschnitten. Verstehst du? Ich möchte als Bub im Bubenchor mitsingen.“

„Oh ja. Ich helfe dir, Giulia. Ich werde Mama, Nonno und Francesco erzählen, dass eine Laus von deinem Kopf hinunter auf mein Bett gepurzelt ist und dass du dann sofort alle Haare abgeschnitten hast. Mir glauben sie das.“

Giulia und Giovanni schauten einander verschwörerisch an. Es war schön ein gemeinsames Geheimnis zu haben, ein Geheimnis, das Giovanni zu Weihnachten gesund machen würde.

„Zu Neujahr werde ich wie die anderen Kinder herumlaufen und das Feuerwerk betrachten können“, sagte Giovanni.

„Ja, das wirst du. Aber jetzt muss ich gehen, zu diesem Vorsingen. Halt mir die Daumen, dass sie mich nehmen. Ich werde Giulio sein, dein Cousin aus Terni.“

„Giulio?“

Giulia nickte. „Es gibt ihn“, sagte sie. „Ich weiß, dass er ungefähr so alt ist wie ich. Er wohnt in Terni. Er ist der Sohn eines Cousins von Papa. Wir haben ihn vor ein paar Jahren beim Begräbnis von Nonna, Papas Mama, gesehen.“

Als sie das Haus verließ, hatte sie eine Kappe aufgesetzt. Jetzt konnte sie so tun, als würden ihre Zöpfe darunter versteckt sein, und niemand würde nachfragen, wo ihre Zöpfe hin verschwunden waren. Sie hatte keine Zeit mehr für neugierige Fragen von Bekannten. Sie musste pünktlich beim Vorsingen sein.

Veröffentlicht unter Adventkalender

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