Menü Schließen

Adventkalender – 12. Tag

In den vordersten Bänken der Kirche saß eine Handvoll Buben. Einige Mütter hatten in den letzten Reihen Platz genommen und plauderten leise. Giulia schlüpfte in die Bank neben Simone, der auch in ihre Dorfschule ging. Giulias Herz klopfte bis zum Hals. Ob Simone ihre Tarnung durchschaute? Aber dieser schaute nur kurz zu ihr und nickte freundlich.  Giulia atmete auf. Simone hatte sie nicht erkannt, sie war für ihn ein fremder Bub, der auch vorsingen wollte.

„Ich bin ganz schön aufgeregt“, flüsterte sie ihm zu und versuchte ihre Stimme ein bisschen tiefer klingen zu lassen.

„Ich auch.“

Don Pietro und ein dünner langer Mann traten aus der Sakristei. Es musste der Chorleiter sein.

Dieser ging die Stufen vom Alter hinunter und blieb vor den Buben stehen.

„Ihr werdet einzeln nach vorne kommen, euch oben hinstellen, hinunter in die Kirche schauen, deutlich euren Namen und euer Alter nennen und ein Lied singen. Welches ist mir egal“, sagte er. „Wer will anfangen?“

Giulia und die Buben duckten sich. Keiner hatte Lust als erster alleine oben zu stehen.

Der Chorleiter schüttelte den Kopf und spöttelte: „Ihr wollt in Rom vor tausenden Menschen singen, euer Gesicht wird im Fernsehen auf der ganzen Welt gezeigt und jetzt habt ihr Angst, vor mir, Don Pietro und ein paar Müttern zu singen? Wenn das so ist, ist keiner von euch geeignet.“ Er drehte sich um, als wollte er gehen.

„Oh nein“, rief Giulia. „Ich singe.“  Sie schoss aus der Bank heraus und die Stufen hinauf. Oben sagte sie mit fester Stimme: „Ich heiße Giulio Ribonetti und komme aus Terni. Ich bin zehn Jahre alt.“ Dann holte sie noch einmal tief Luft und sang das Lied vom kleinen Jesuskind in der Krippe. Ihre klare, hohe Stimme füllte die Kirche.

Giulia sang alle Strophen und hätte wieder von vorne angefangen, wenn der Chorleiter nicht gerufen hätte: „Danke. Das reicht. Du kannst dich wieder setzen. Noch jemand, der es versuchen will?“

Simone zeigte auf.

Der Chorleiter nickte. Als Giulia und Simone einander auf den Stufen trafen, flüsterte Simone: „Du singst sehr schön, aber wie ein Mädchen.“

Giulia wurde ganz blass.

Und als sie wieder in der Bank saß, konnte sie nur daran denken, dass sie wie ein Mädchen gesungen hatte. Wahrscheinlich viel zu hoch und viel zu hell. So sangen Buben nicht. Simone hatte eine kräftige, dunkle Stimme. Ein Bubenchor braucht Bubenstimmen. Sie hatte es vermasselt.

Giulia starrte auf ihre Knie hinunter, während die anderen vorsangen. Erst als der letzte Bub fertig war, stellte sich der Chorleiter vor ihnen auf.

„Keiner von euch hat falsch gesungen. Aber für dieses große und erhabene Ereignis braucht es besondere Stimmen. Einige von euch kann ich im Chor brauchen. Einige, nicht alle. Das werdet ihr verstehen oder?“

„Das war es dann“, dachte Giulia. Sie hatte eine schöne Stimme, aber es blieb eine Mädchenstimme. Sie stand auf und wollte aus der Bank schlüpfen.

„Wo gehst du hin, Giulio?“, fragte der Chorleiter. „Willst du nicht hören, ob ich dich brauchen kann?“

„Ich weiß, dass ich eine Mädchenstimme habe“, murmelte Giulia. „Sie ist viel zu hoch.

„Eine Mädchenstimme! Wer sagt so etwas?“, rief der Chorleiter empört.

Giulia schaute zu Simone hinüber. Der Chorleiter fing den Blick auf.

„Du da.“ Er zeigte auf Simone. „Du meinst Giulio hätte eine Mädchenstimme?“

Simone sprang auf und lief ganz rot an.

„Ich, ich meinte es nur, weil er so hoch und hell singt. Es klingt halt, wie wenn ein Mädchen singen würde“, rechtfertigte er sich.

Veröffentlicht unter Adventkalender

Ähnliche Beiträge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner