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Adventkalender – 20. Dezember

Bambi

„Also“ sagte Oma. „Es ist eine längere Geschichte.“

„Wir haben Zeit“, sagte Papa, dem der Orangenpunsch im Tee und eine Schmerztablette aus Omas Reiseapotheke gut getan hatten.

„Viel Zeit“, sagte Mehmet, dessen Füße zu seiner Erleichterung die Strapazen ohne Frostbeulen überstanden hatten und nun warm in ein paar von Omas selbstgestrickten Hüttensocken steckten.

„Aber es ist auch eine ziemlich peinliche Geschichte“, gestand Oma.

„Das kann ich mir jetzt schon denken“, murmelte Papa. „Ein Wohnmobil in deinem Alter mieten und damit in einen verschneiten Wald hineinfahren, dort stecken bleiben und über irgendeinen Fremden Notrufe nach Hause schicken lassen, statt die Feuerwehr oder wenigstens den ÖAMTC zu verständigen.“

„Korbinian ist kein Fremder“, brauste Oma auf. „Der ist mittlerweile ein guter Freund geworden. Wenn man auf derselben Wellenlinie ist, genügen ein paar Stunden dafür. Außerdem ist man hier am Land. Das ist nicht so wie in der Stadt, wo man Jahre lang neben Leuten wohnen kann, ohne zu wissen wer sie sind. Nein, hier am Land ticken die Leute anders und wenn Korbinian autofahren könnte, hätte er mich schon längst aus dem Schlamassel gerettet. Dann hätte ich dich nicht gebraucht.“

Papa hob beschwichtigend die Hände und Mehmet fragte: „Und warum hast du nicht die Feuerwehr gerufen?“

„Das ging doch nicht“, sagte Oma vage. „Da hätte es nur Schwierigkeiten gegeben wegen Bambi. Es ist besser, niemand sieht sie.“

„Und wer ist Bambi?“, fragte Anton. Er kannte nur ein Bambi. Das Reh aus dem Zeichentrickfilm.

„Soll ich euch nun die Geschichte erzählen, oder nicht?“

„Schieß los“, seufzte Papa, der ahnte, dass die Sache um einiges komplizierter war, als bloß ein Wohnmobil mit Schneeketten zu versehen und rückwärts einen tiefverschneiten Waldweg hinaufzufahren. Abgesehen davon, dass er beides mit seinem kaputten Knöchel nicht machen konnte.

„Also“, fing Oma an. „Ich hatte Lust auf einen Kurzkurzurlaub. Ich wollte wieder einmal richtig Schnee sehen und mir die Lunge mit gesunder, klarer, kalter Winterluft vollpumpen. Deshalb habe ich dich drei Mal angerufen. Ich wollte es mit dir besprechen. Aber du warst ja offensichtlich zu beschäftigt, um ein Telefongespräch anzunehmen.“

Papa blickte betreten drein. „Wenn ich es gewusst hätte …“

Oma ließ ihm keine Zeit, sich zu rechtfertigen. „Also musste ich die Sache selbst in die Hand nehmen. Ich beschloss, hinauf in den bayerischen Wald zu fahren. Dort warst du mal mit Papa und mir zusammen, Klausimausi, als du noch ein Baby warst. Ich weiß noch, wie du damals deine niedlichen, knubbeligen Fäustchen entzückt nach dem Schnee ausgestreckt hast. Damals haben wir uns auch so ein Wintermobil ausgeborgt und ich bin gefahren. Stell dir vor.“ Oma schaute stolz und Mehmet flüsterte Anton zu: „Siehst du, mein Papa war nicht leichtfertig. Sie hatte Erfahrung.“

„Tja und dann ist mir das Missgeschick mit der falschen Abzweigung passiert. Aber gib zu, Klausimaus, wenn ich dich nicht gewarnt hätte, wärst du auch da hinunter gefahren, oder?“

Papa murmelte etwas Unverständliches, das nicht unbedingt nach Zustimmung klang.

„Tja und als ich merkte, dass es keine StraĂźe war, war es schon zu spät. Also dachte ich mir, dass ich mit etwas GlĂĽck und Hilfe von da oben trotzdem durchkommen könnte. Laut meiner Karte, die ich von unserem Urlaub noch hatte, sollte es etwas weiter unten wieder eine DurchgangsstraĂźe geben. Aber…“ Oma pausierte kurz, „…aber das hat dann doch nicht geklappt und als dann die SchĂĽsse fielen….“ jetzt machte Oma wieder eine Pause und schaute, wie Anton bemerkte, recht zufrieden in drei erschrockene Gesichter.

„Schüsse!“, hauchte Mehmet. „Mann, was für Schüsse denn? Gibt es hier Gangs, die sich gegenseitig bekriegen? Wenn ja, will ich hier sofort weg. Dann bleibe ich nicht über Nacht. Gangs sind das letzte. Im Fernsehen geht das nie gut aus. Die schießen auch auf völlig Unbeteiligte, nur weil sie zufällig auch da sind.“

„Keine Gangs“, beruhigte Oma Mehmet. „Es stellte sich heraus, dass es Korbinian war. Na ja, damals wusste ich nicht, dass es Korbinian war.“

„Mama, du hast einen neuen Freund, der im Wald herum ballert?“

„Also“, Oma schaute Papa wieder vorwurfsvoll an. „Herumballern ist reichlich übertrieben. Es waren ein paar gezielte Schüsse.“

„Gezielte Schüsse“, piepste Mehmet. „Oma, du hast dich da auf etwas ganz Faules eingelassen.“

„Blödsinn. Korbinian war auf der Jagd. Leider hat sein Schuss nicht das Ziel sondern Bambi getroffen.“

„Korbinian ist also ein Jäger oder Förster?“, fragte Anton nach.

„Ahm, nicht ganz direkt. Er kümmert sich, wie soll man es sagen, freiwillig um die Wildpflege hier im Wald.“

„Freiwillig. Du meinst ohne Auftrag, ohne Jagdschein.“ Jetzt dämmerte es Papa, warum Oma nicht die Feuerwehr verständigen wollte. Dieser Korbinian war offensichtlich ein Wilderer. „Und dieses angeschossene Bambi versteckst du nun.“ Papa nickt mit dem Kinn Richtung Bett.


„Diese, Bambi ist eine sie. Korbinian hatte sie nicht treffen wollen. Wirklich, aber sie sprang ihm plötzlich ins Schussfeld herein.  Ein Streifschuss, aber doch schlimm genug, um sie nicht sofort in häusliche Pflege zu entlassen. Wir einigten uns darauf, dass es besser wäre, wegen des eigenen Missgeschicks, wenn keiner den anderen anzeigt. Wir wollten das unter uns regeln. Ich würde  Bambi ein paar Tage versorgen und Korbinian sollte sich darum kümmern, dass du die Nachricht erhältst und mich holen kommst.“

„Und wer ist denn nun Bambi?“, unterbrach Anton sie. Er  hielt es vor Neugier kaum mehr aus.

Veröffentlicht unter Adventkalender

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