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Adventkalender – 7 – Simon

Simon war perplex. Hatte Tante Clementia wirklich recht? War die Speisekammer leer oder spielte sie nur Theater? Er schaute auf Großonkel Paulus. Dieser hatte die Augen geschlossen, und zum ersten mal sah Simon, wie alt und zerbrechlich Großonkel Paulus war. Bis jetzt war er für Simon immer die wichtigste und mächtigste Maus gewesen, die er kannte, furchtlos und weise. Doch nun saß dort im Lehnstuhl ein Greis, alt und schwach.
„Ich muss mir selber helfen“, dachte Simon. „Ich werde in die Speisekammer gehen und selbst schauen!“
Die Speisekammer: Keines der Mäusekinder durfte dort hingehen. Es war der gefährlichste Ort im Haus. Tagsüber herrschte dort die Katze und in der Nacht gab es dort heimtückische Fallen, unsichtbar im Finstern, doch mit solchen Leckereien versehen, daß Mäusekinder willenlos in ihr Schicksal rannten.
Oft genug hatte ihm die Mutter die Geschichte von der kleinen Maus August erzählt, die heimlich in der Nacht in die Speisekammer geschlichen war und dort ein herrliches Stückchen Speck gerochen hatte. So unwiderstehlich gut hatte der Speck geduftet, daß August trotz der zahlreichen Warnungen seiner Eltern immer der Nase nachgegangen war, bis die Nasenspitze am Speck angestupst war. Und dann, dann war die Falle zugeklappt und August hatte noch Glück im Unglück gehabt, ihm wurde bloß die Nasenspitze ein Stücken gekürzt.
„Doch wieviel ungehorsame Mäusekinder“, pflegte Simons Mutter zu seufzen,“ kamen von so einem verbotenen Ausflug niemals, niemals mehr zurück?“
Ein Schauer lief Simon über den Rücken, als er daran dachte. Doch jetzt war es hell und die Katze war auch nicht mehr da. Mutig kroch er durch den Tunnel, der zur Speisekammer führte. Dort angekommen stellte er sich in die Mitte und reckte sich. Gähnende Leere herrschte auf den untersten Regalen. Er versuchte auf die oberen Regale zu schauen. Doch die waren zu hoch. Er würde hinaufklettern müssen. Ein gefährliches Unternehmen. Die Wände waren senkrecht und nur hier und da gab es Risse im Verputz.
„Ich muss es tun“, sprach Simon laut, „Ich muss Gewissheit haben, dass die Speisekammer wirklich ganz und gar leer ist.“ Er fing an zu klettern.
Langsam, unendlich langsam kam er vorwärts. Er verkeilte seine Füße in den Rissen, suchte mit den Händen Spalten im Verputz, und zog sich dann wieder ein Stückchen höher. Seine Knie zitterten und der Schweiß rann ihm über das Mäusegesicht und tröpfelte von seinen Schnurrbarthaaren herunter. Doch es gelang ihm, die oberen Regale zu erreichen. Jedes war leer, ganz leer. Völlig erschöpft saß er schließlich am höchsten Brett. Auch dieses war, bis auf ein staubiges Blatt Papier, ganz leer. Als Simon sich ein wenig ausgeruht hatte, tastete er sich bis zum Rand vor, und schaute hinunter in die Tiefe. Ihm wurde schwindlig. Der Boden schien kilometerweit entfernt zu sein. Wie sollte er da jemals wieder hinunter kommen? Beim Hinaufklettern hatte er keinen Augenblick an den Abstieg gedacht und jetzt wusste er, dass diese Unüberlegtheit fatal war. Er war hier oben gefangen. Keiner würden ihn hören, wenn er um Hilfe schrie. Keiner würde ihn hier suchen, denn er durfte ja gar nicht hier sein. Und noch schlimmer: Keiner würde zufällig hierher kommen, denn Großonkel Paulus, Tante Clementia, Papa und Mutti wußten, dass es hier nichts mehr zu holen gab. Er war völlig hilflos und mutterseelen allein. Er fing an zu weinen.

Veröffentlicht unter Adventkalender

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