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Adventkalender – 6 – Großonkel Paulus liest vor

Großonkel Paulus nahm die Pfeife aus seinem Mund und legte sie bedächtig in den Aschenbecher. Tante Clementia hatte sich wieder etwas gefasst und lehnte sich gegen den Kamin. Großonkel Paulus räusperte sich und las vor: „Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht. Man freut sich in Deiner Nähe, wie man sich freut bei der Ernte. Denn uns ist ein Kind geboren. Man nennt ihn wunderbarer Ratgeber“.
„Was hat das zu bedeuten, Großonkel?“ fragte Simon.
„Ist, ist es ein Schatzbuch?“, rief Ruprecht, der noch immer von einer großen Kiste mit Käsestückchen träumte. Leontinchen sagte gar nichts. Sie hatte Großonkel Paulus beim Vorlesen genau beobachtet und gesehen, wie sein Gesicht sich sorgenvoll zusammen gezogen hatte, als er die Zeile über die Ernte las.
„Irgend etwas stimmt nicht“, dachte Leontinchen. „Großonkel Paulus und Papa haben miteinander etwas besprochen, etwas, das nicht schön ist“. Und sie war sich ganz sicher, dass es mit der Ernte zu tun hatte. Als sie an die Ernte dachte, begann ihr Magen leise zu knurren.
„Ich habe Hunger“, überlegte sie, „und das obwohl es noch lange nicht Zeit für das Abendessen ist. Allerdings war das Mittagessen ganz und gar nicht üppig, bloß eine kleine Schale Zwiebelsuppe mit ein Paar Brocken Käse“.
Ihre sorgenvollen Gedanken wurden von Tante Clementia abrupt unterbrochen. Denn diese fuchtelte aufgeregt mit den Armen umher und rief: „Es ist eine Offenbarung für uns. Wir leben im Dunkeln. Hat denn noch keiner bemerkt, dass es im ganzen Haus keine Glühbirnen mehr gibt? Und was die Ernte betrifft, war einer von Euch schon in der Speisekam..!“
„Clementia, nicht jetzt, später“, rief Großonkel Paulus beschwörend, der nicht wollte, dass die Kinder sich über die leere Speisekammer Sorgen machen würden. Doch Clementia ließ sich nicht bremsen.
„Die Speisekammer ist nämlich ..“, sie unterbrach kurz und schaute alle an, um sich zu vergewissern, dass ihr Publikum auch aufmerksam war. Darüber hätte sie sich keine Sorgen machen müssen, denn Ruprecht, Leontinchen und Simon starrten sie mit offenem Mund an.
„… nämlich leer“, fuhr sie fort. „Wir haben keine Vorräte mehr“.
Tante Clementia war in ihrem Element. Sie liebte dramatische Szenen.
„Oh grausames Schicksal!“, rief sie und schwankte wie ein Schilfrohr im Wind, „Wir müssen sterben. Zuerst werden wir hungrig, schrecklich hungrig. Vielleicht werden wir um den letzten Bissen bis auf das Blut gegeneinander kämpfen. Dann aber wird uns der Hunger die Kräfte rauben. Wir werden dahinsiechen und „. Tante Clementia sank auf den Boden und hauchte: „und sterben“.
Bewegungslos blieb sie am Boden liegen. Ruprecht starrte auf seine Tante, die wie ein Häufchen grüner Seide vor ihm lag und fing an zu brüllen. Er war überzeugt, dass sie wirklich tot war.
Auch Leontinchen, obwohl sie wusste daß die Tante nur Theater gespielt hatte, standen Tränen in den Augen. Ihr war klar, dass Tante Clementia recht hatte, und dass es Großvater und ihre Eltern die ganze Zeit schon gewusst hatten. Die Speisekammer war leer. Und wenn sie nichts mehr zu essen hatten, mussten sie sterben. Ihr war als ob sich eine eiskalte Faust um ihr kleines Mäuseherzchen schloss. Sie fing an zu zittern.

Veröffentlicht unter Adventkalender

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