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Adventkalender – 8 – Hilft dir keiner, hilf dir selbst

Simon weinte solange, bis seine Kehle ganz rauh war und sein Weinen zu einem gelegentlichen Schluchzen versiegt war. Sein Gesicht war tränenverschmiert und aus seiner kleinen Stupsnase tröpfelte der Rotz. Er versuchte ihn mit dem Handrücken zu entfernen, doch das gelang ihm nur teilweise. Er zog das Blatt Papier, das neben ihm am Regalbrett lag zu sich und wischte sich die Hand an einer Ecke des Blattes ab. Dann riss er ein Stückchen Papier ab und schneuzte sich damit. Er warf den schmutzigen Streifen vom Regal hinunter.
Der Streifen segelte elegant in langsamen Bögen dem Boden zu. Fasziniert schaute Simon, seinen Kummer einen Augenblick vergessend, auf die Flugbahn.
„Wie ein Flugzeug oder Drachenflieger“ dachte Simon. Plötzlich wurde ihm ganz heiß. Jetzt wusste er, wie er wieder vom Regal hinunterkommen würde: Mit einem Drachenflieger.
Er trippelte und tänzelte aufgeregt um das Blatt. Einmal zupfte er hier an dem Papier, einmal dort. Er würde ein Fluggerät falten. Vor Aufregung hätte er in die Luft springen können. Doch er bremste sich. Er musste sorgfältig und bedächtig vorgehen. Denn ein kleiner Fehler beim Falten würde tödliche Konsequenzen haben.
Er setzte sich in die Mitte des Papiers und streckte seine Ärmchen nach vorne, bis er die zwei oberen Ecken des Papiers zwischen seinen Fingern hielt. Gleichmäßig zog er an und formte so eine Spitze. Dann hüpfte er vom Blatt herunter und faltete es in der Längsrichtung. Mit seinen Zähnen knabberte er entlang der Faltlinie, so dass sie bestimmt beim Flug nicht aufgehen würde.  „Das ist der Rumpf und jetzt noch die Flügel“, sprach er zu sich.
Nach mehreren Versuchen hatte er links und rechts Flügel geformt. Erschöpft setzte er sich ein Weilchen hin und überlegte, wie er sich an dem fertigen Fluggerät festhalten könnte? Sollte er sich oben darauf zwischen die Flügeln setzen oder sollte er sich wie beim Drachenflieger unten an den Rumpf hängen? Beides hatte Vor- und Nachteile. Saß er oben, hatte er einen bequemen Platz und musste nicht in die Tiefe schauen. Auch die Landung wäre leichter. Doch wie sollte er starten und lenken? Und würde das Flugzeug nicht durch sein Gewicht kippen? Hielt er sich hingegen unten fest, konnte er zwar starten und lenken und würde nicht umkippen, aber hatte er Kraft genug für die Flugstrecke, und wie würde die Landung sein?
Er konnte sich nicht entscheiden. Mal war er nahe dran sich oben drauf zu setzen, mal hielt er sich probeweise unten fest. Vor lauter Nachdenken kaute er auf seiner Unterlippe und machte sich einen Knoten in seinen Schwanz.
Plötzlich jedoch hatte er die Lösung. Er kletterte auf das Fluggerät und fing an zwei Löcher in den Rumpf zu nagen, die gerade für jeweils ein Bein groß genug waren, und zwei winzige Löcher dahinter, durch die er seinen Schwanz als Sicherheitsgurt durchfädeln konnte. Schnell war das erledigt. Stolz setzte er sich in sein Fluggerät. Die Beinchen ragten durch die Löcher und standen fest am Boden. Das ganze sah so aus, als ob er eine überdimensionierte seltsam geformte Hose anhätte. Jetzt saß er bequem, konnte aber trotzdem, indem er einen kleinen Anlauf nehmen würde, starten. Sollte er beim Fliegen einen Looping schlagen, würde sein eingefädelter Schwanz als Sicherheitsgurt dienen. Und bei der Landung würde er die Beine hochziehen. „Genial“, dachte Simon, „jetzt muß ich bloß noch genug Mut haben!“
Er spazierte mit seiner Flugzeughose bis zur Wand. Seine Startbahn, war jetzt ungefähr 60 Zentimeter lang, 60 Zentimeter und dann endlose Tiefe.
„Ich zähle bis drei und dann laufe ich los“, sagte Simon und seine Knie zitterten.
„Eins, zwei, drei!“ Simon schloss die Augen und rannte so schnell er konnte. „Rennen, rennen, rennen“, dachte er und drückte die Augen noch fester zu.

Veröffentlicht unter Adventkalender

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