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Adventkalender – 5. Tag

Giulia wurde schwindelig. Am liebsten hätte sie sich neben Giovanni auf den Boden gelegt. Nein, am liebsten wäre sie weit, weit weg gelaufen.

„Madonna“, flehte sie. „Du musst mir nicht helfen, bitte hilf Giovanni. Lass ihn die Augen wieder aufmachen.“

Giulia starrte auf Giovanni. Bewegte sich seine Brust? Sie beugte sich über ihn, legte ihr Ohr ganz nah an Giovannis Mund.

Ja, sie konnte ein ganz leises Atemgeräusch hören und als sie ihre Wange an Stelle des Ohres hinlegte, spürte sie einen zarten Windhauch.

„Madonna, danke“, flüsterte sie.

Dann rannte sie ins Haus, benetzte ein Geschirrtuch mit kaltem Wasser, eilte zu Giovanni zurück und rieb ihm damit das Gesicht, die Arme und die Beine ab. Giovanni seufzte, seine Augenlider flatterten zuerst und dann öffnete er sie.

Als er Giulia sah, zuckte er zusammen, als hätte er Angst vor ihr.

„Ist gut, ist gut“, rief Giulia. „Ruh dich nur aus. Alle Arbeit ist fertig. Du hast es gut gemacht. Möchtest du ein Stückchen Schokolade als Belohnung?“

Giulia wusste, dass Francesco in seinem Schrank heimlich einen kleinen Vorrat hatte.

Giovanni schüttelte ein wenig den Kopf und versuchte hochzukommen. Aber er schaffte es nicht.

„Ist gut“, sagte Giulia rasch. „Bleib nur liegen. Weißt du was, ich hole ein paar Kissen und eine Decke und mache es dir bequem.“

Giulia saß neben Giovanni bis sie die quietschende Bremse des Fahrrades hörte. Dann rannte sie ihrer Mutter entgegen.

Die Worte stolperten durcheinander aus ihrem Mund:  „Giovanni, Giovanni hat für mich das Unkraut gejätet.  Er musste sich hinlegen. Ihm war schwindlig. Er hat mir nicht mehr geantwortet. Ich habe ihm eine Decke gebracht. Er wollte keine Schokolade. Er kann  nicht aufstehen.“

„Was?“ Das Gesicht ihrer Mutter verzerrte sich.

Sie fasste Giulia an den Schultern und schüttelte sie: „“Was redest du da?“

„Ich wollte es nicht, wirklich nicht. Ich wollte doch nur …“

Aber Giulias Mutter hörte ihr gar nicht zu. Sie stieß Giulia zur Seite und rannte ins Haus hinein, um gleich darauf wieder vor ihr zu stehen.

„Wo, wo ist er?“ rief sie. „Rede schon! Ist, ist…“ Das Gesicht der Mutter war genauso weiß geworden, wie Giovannis Gesicht

„Im, im Gemüsegarten.“

„Oh Madonna!“ Die Mutter lief um das Haus herum.

Giulia rannte ihr nach.

„Mama, er sollte doch nur einen Kübel Unkraut jäten, um ein bisschen Hunger zu bekommen. Mama!“

Giulia hätte auch gegen Luft reden können, ihre Mutter hatte nur Augen und Ohren für Giovanni. Vorsichtig hob sie ihn auf, trug ihn ins Haus und legte ihn auf sein Bett.

Erst dann schien sie Giulia wieder zu bemerken, die wie ein Schatten hinter ihr her gelaufen war.

„Ich wollte ..“, setzte Giulia an, aber ihre Mutter fiel ihr ins Wort: „Du läufst wie der Blitz zum Arzt und bittest ihn sofort zu kommen. Lauf! Lauf schon!“

In der Haustüröffnung stieß Giulia mit Francesco zusammen.

„He!“, schimpfte er gutmütig. „Pass mal auf!“

„Bist du das, Francesco“, rief die Mutter.

„Ja!“

„Gott sei Dank.“ Die Mutter kam zur Haustür.

„Ich laufe schon“, sagte Giulia rasch, weil sie noch neben Francesco auf der Schwelle stand.

„Nein, bleib da! Francesco, fahr mit deiner Vespa zum Doktor. Giovanni ist krank. Er soll sofort kommen. Sofort, hörst du.“

Francesco zögerte keine Sekunde, mit einem Satz saß er wieder auf seinem Motorroller, gab Gas und fuhr los.

Giulia schaute ihm nach.

Natürlich war Francesco viel schneller beim Doktor als sie zu Fuß. Aber es war schlimm hier vor der Tür zu stehen und nichts machen zu können, während es Giovanni so schlecht ging. Und am schlimmsten war, dass es ihre Schuld war.

„Aber ich habe doch nicht wissen können, dass er von dem Bisschen Unkrautjäten so krank wird. Ich habe das doch nicht wissen können“, dachte Giulia und fühlte sich elend.

Wenn sie bloß helfen könnte! Es irgendwie wieder gut machen könnte. Wenn sie die Zeit zurückdrehen könnte! Am Nachmittag, auf dem Weg nach Stroncone und dann in der Kirche und beim Einkaufen, war alles noch in Ordnung gewesen. Giovanni hatte Zuhause in seinem Stuhl ein Buch gelesen. Ihm war es gut gegangen. Oh, wenn sie doch nur die Zeit zurückdrehen könnte.

Sie schlich sich ins Haus. Durch die halboffene Tür von Francescos und Giovannis Schlafzimmer konnte sie Mama sehen, wie diese auf der Bettkante saß und Giovannis Kopf streichelte.

„Schön ruhig atmen“, hörte sie Mama sagen. „Ruhig atmen, mein Schatz. Es wird alles wieder gut.“

Veröffentlicht unter Adventkalender

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