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Adventkalender – 19. Tag

„Ein Mädchen!“, rief die Klosterschwester. „Wo hatte ich meinen Kopf? Jetzt wo ich genauer hinsehe, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich bist du ein Mädchen. Die hohe Stimme, dein Gesicht. Oh, ich Dummkopf.“

Sie zog Giulia hinter sich her in das kleine Zimmer hinter der Rezeption.

„Setz dich.“

Sie drückte Giulia auf einen der beiden Sessel.

Giulia war über sich selbst entsetzt. Jetzt hatte sie sich verplappert. Jetzt würde sie nicht singen dürfen. Noch schlimmer, was, wenn das Santo Bambino von ihr enttäuscht war? Sie hatte es ihm doch versprochen, dass sie ihr aller, aller Bestes geben würde. Und jetzt würde sie gar nicht singen.

Und der Chorleiter erst! Ihre Stimme war wichtig, weil sie so hoch und klar hinaufkam wie keiner der Buben. Das Halleluja hatte eine kurze Stelle, wo ihre Stimme über allen drüber schweben sollte. Wie würde das jämmerlich klingen, wenn sie fehlte.

„Bitte, Schwester, bitte verraten sie es nicht“, bettelte Giulia. „Ich muss singen. Sie haben selbst gesagt, dass jede einzelne Stimme in einem Chor wichtig ist. Sie haben dem Mann gesagt, dass es einen traurigen Misston geben würde, wenn ich dem Bambino nicht vorher meine Bitte vortragen könne. Aber noch schlimmer als ein trauriger Misston wäre es doch, wenn mein Ton ganz fehlte? Seit drei Monaten singe ich im Chor mit. Nur Simone weiß Bescheid. Kein anderer hat es bemerkt. Der Chorleiter denkt, dass ich ein hoher Knabensopran bin. Das ist sehr selten, aber es gibt sie. Lassen Sie mich mitsingen, bitte.“

Die Schwester seufzte ein paar Mal tief.

„Noch nie, noch nie hat ein Mädchen bei der Weihnachtsmette gesungen. Das ist doch einfach unmöglich. Wenn es auffliegt! Die ganze Welt würde darüber lachen und spotten. Das kann ich dem Papst doch nicht antun!“

Dem Papst? Ja, was würde der sagen? Wenn man den Papst beleidigte, war das sicher eine sehr, sehr schlimme Sache. Giulia konnte sich vorstellen, was Don Pietro darüber dachte. Wahrscheinlich müsste sie bis an ihr Lebensende bei jeder Messe ganz hinten in der Kirche stehen bleiben.

Und doch, … Wenn der Papst Bescheid wüsste und es nicht schlimm fand, dann ….

„Schwester“, sagte Giulia. „Vor der Mette, hat der Chorleiter erzählt, wird der Papst uns kurz empfangen. Er wird  uns einzeln segnen, und wir sollen dann seinen Ring küssen. Wenn ich ihn in diesem Moment zuflüstere, dass ich ein Mädchen bin, wird er bei mir stehen bleiben. Dann kann ich ihm rasch alles erklären. Und, wenn er meint, dass ich trotzdem mitsingen darf …“ Sie redete nicht weiter.

„Den Papst anreden, ohne dass man gefragt wird? Nein.“ Die Schwester schüttelte ihren Kopf.

„Aber es wäre eine Chance, dass alles noch gut wird. Wenn er versteht, warum ich es tun musste, wird er zustimmen. Da bin ich mir ganz sicher.“

„Ja, da hast du wahrscheinlich recht“, sagte die Schwester langsam. „Unser Papst ist so gütig. Aber diese Aufregung knapp vor der Mette. Er ist nicht mehr jung.“

„Bitte, bitte.“ Giulia schaute die Schwester so flehentlich an, dass diese noch drei, viermal tief seufzte und schließlich antwortete: „In Gottes Namen. So soll es dann sein.“

Veröffentlicht unter Adventkalender

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