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Adventkalender – 18. Tag

Simone blickte die Klosterschwester erschrocken an.

„Meine Eltern fahren morgen nach Terni in ein Hotel, um dort im Fernsehen die Messe zu sehen. Sie haben dafür viel Geld bezahlt, und wenn sie mich dann nicht singen hören, …“ Seine Unterlippe fing an zu zittern, und er versuchte nicht zu weinen.

„Bestrafen Sie nur mich. Erzählen Sie, dass ich alleine fortgegangen bin“, bat Giulia. „Simone wollte mir nur helfen.“

„Ach Kinder“, sagte die Klosterschwester ärgerlich. „Ich kann es gar nicht sagen. In so einem Chor ist doch jede Stimme wichtig, da kann nicht plötzlich einer fehlen. Aber ab jetzt keine Heimlichkeiten mehr, keine unerlaubten Ausflüge. Versprochen?“

„Ja.“

„Dann ab mit euch ins Zimmer.“

In der Nacht konnte Giulia nicht schlafen. Immer wieder musste sie an das Santo Bambino denken. Hatte es wirklich ihre Bitte hören können, oder hatte es lieber den Kindern zugehört, die ihm die schönen, kleinen Predigten hielten? Je länger die Nacht dauerte, desto mehr wuchs ihre Befürchtung, dass sie es nicht richtig gemacht hatte.

Am nächsten Vormittag fiel es ihr schwer, bei der Probe gut aufzupassen, und am Nachmittag, als der Chorleiter alle in die Zimmer geschickt hatte, um sich gut auszuruhen, wetzte sie im Bett herum. Schließlich hielt sie es nicht länger aus.

„Ich muss es nochmals versuchen“, sagte sie zu Simone.

„Soll ich mit?“, fragte Simone und war erleichtert, als Giulia es ablehnte.

„Nein, ich weiß nicht, ob ich rechtzeitig zurück bin. Ich werde in der Schlange warten, damit ich wie die anderen vorne stehen kann. Dann wird es mich sicher hören.“

Sie nahm ihre Jacke und verließ das Zimmer.

An der Pforte hinter dem Tresen der Rezeption saß die Schwester, die sie gestern beim Heimkommen erwischt hatte. Sie war in eine Stickerei vertieft. Giulia ließ sich auf Hände und Knie nieder und kroch an ihr vorbei.

Nur die Tür hinaus quietschte leise, als sie sie hinter sich zumachte. Sie rannte los, ohne sich umzuschauen. „Denn“, dachte sie, „wer sich umschaut, macht sich verdächtig.“

Zum Glück hatte sie sich den Weg gemerkt.

Vor der Kirche standen wieder viele Kinder mit ihren Eltern. Giulia reihte sich ein. Sie würde geduldig warten. Sie überschlug die Zahl der Kinder, die sich vor ihr draußen angestellt hatten. Wenn jedes Kind drei Minuten predigen durfte, würde sie in einer Stunde die Kirche betreten und vielleicht dann noch eine weitere halbe Stunde warten müssen, bis sie dran war.

„Wer hat es mir denn gestern versprochen?“, hörte sie auf einmal hinter sich eine Stimme. Giulia zuckte zusammen und drehte sich um. Vor ihr stand die Klosterschwester. 

„Ich stickte friedlich in meiner Rezeption, als ich ein leises Geräusch hörte, das Quietschen einer Türangel. Als ich aufschaute, sah ich noch einen kleinen Schatten davon huschen. Ein kleiner Schatten, der mir allerdings fest versprochen hatte, keine heimlichen Ausflüge mehr zu unternehmen.“

„Ich musste! Die ganze Nacht konnte ich nicht richtig schlafen, weil ich wusste, dass ich es falsch gemacht hatte.“

„Falsch?“

„Ja, ich stand viel zu weit weg in einer Ecke, und das Santo Bambino hat sicher nur das predigende Kind gehört. Also wollte ich heute selbst da vorne stehen und es darum bitten, ohne dass ein anderer redet.“

Die Schwester schnaubte.

„So ein Blödsinn. Das Santo Bambino hört nicht mit den Ohren, sondern mit dem Herzen. Da kommt es nicht auf nah oder weit an, das kommt es nicht auf laut oder leise an. Das Santo Bambino hört mit seinem Herzen, und dort ist das am Nächsten und am Deutlichsten, was am Ehrlichsten ist.“

 „Wirklich?“, fragte Giulia.

„Ja, das weiß ich so genau, wie ich weiß, dass ich zwei Füße und einen Kopf habe. Deshalb sollten wir jetzt gehen, damit der Chor vollständig nach dem Abendessen in den Petersdom marschieren kann.“

Giulia zögerte. Es gehörte sich nicht, einer Klosterschwester zu widersprechen.

„Könnte ich nicht bleiben? Es fühlt sich einfach besser an, wenn ich das Santo Bambino ganz nahe bitten kann.“

„Du bist ein stures Kind.“ Die Schwester seufzte. Dann nahm sie Giulia resolut an die Hand und führte sie an den Wartenden vorbei hinein in die Kirche.

Ohne zu zögern ging sie auf den Mann zu, der Giulia gestern am Kragen gepackt hatte.

„Ich habe hier einen Notfall“, sagte sie. „Dürfte dieser Bub sich dazwischen schwindeln und eine Minute lang dem Santo Bambino eine Bitte vortragen.“

„Du warst gestern auch schon hier“, sagte der Mann.

Giulia nickte verlegen.

„Da war ich so weit weg“, sagte sie leise. „Ich glaube, es konnte mich nicht richtig hören.“

„Du wirst dich anstellen müssen wie die anderen“, sagte der Mann streng.

„Guter Mann“, fiel ihm die Klosterschwester ins Wort. „Dieser Bub soll in vier Stunden im Petersdom in seinem Chor stehen und die Mette singen. Seine Stimme ist wichtig, aber er hat große Sorgen um seinen kranken Bruder. Wir müssen diese Sorgen weg pusten, sonst hören der Papst und  die ganze Welt einen traurigen Misston. Ich möchte das nicht verantworten!“

Der Mann zögerte.

„Was wird das Santo Bambino über einen Mann denken, dem es gegeben war, die Schönheit der Weihnachtsmette im Petersdom zu retten, und der es nicht getan hat“, sagte die Schwester eindringlich.

„Na, gut“, gab der Mann nach. „Wenn das Mädchen hier fertig ist, darfst du nach vorne treten. Eine Minute hast du. Und wehe du singst nachher nicht perfekt.“

Federleicht fühlte sich Giulia, als sie an der festen Hand der Klosterschwester zurück ins Gästehaus kam. Sie war sich jetzt ganz sicher, dass das Santo Bambino sie gehört hatte.

Und als die Schwester sie los ließ, umarmte sie sie spontan.

 „Danke, vielen Dank. Ich werde so schön singen, wie ich nur kann, das habe ich auch dem Santo Bambino versprochen. Mein Papa hat früher immer gesagt, dass ich sein Mädchen mit der Engelsstimme bin.“ Die Klosterschwester schaute sie entgeistert an.

Veröffentlicht unter Adventkalender

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