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Adventkalender – 1. Tag

„Giulia!, Giulia!“

Giulia hörte ihre Mutter rufen, ungeduldig, herrisch. Sie wusste, dass sie aus ihrem Versteck hinten im Garten zwischen den Büschen schleunigst herauskommen sollte, um den Tisch zu decken,  zum Kaufmann zu laufen, oder den Mistkübel auszuleeren, das Geschirr abzutrocknen oder Unkraut im kleinen Gemüsegarten hinter dem Haus zu jäten.

„Eigentlich“, dachte Giulia mürrisch, „ist alles, was ein kleines Mädchen im Haushalt helfen kann, meine Aufgabe.“

Und wieder einmal fühlte sie, wie schrecklich ungerecht das war.

Ihre beiden Brüder, der große Francesco und der kleine Giovanni, mussten nie im Haushalt helfen.

Jedes Mal, wenn sie sich bei Mama deshalb beklagte, wusste sie auch schon die Antwort.

„Giulia, Francesco geht jeden Wochentag außer sonntags arbeiten und den größten Teil seines Lohnes gibt er in die Haushaltskasse. Er bezahlt mit, dass du Risotto und Pasta essen  kannst, bis dein Bauch voll ist. Ohne Francescos Geld würde es mir schwer fallen, euch drei und Nonno satt zu kriegen. Ja, wenn Papa noch bei uns wäre, …“

Und dann seufzte Mama und schaute über Giulias Kopf zum Friedhof neben der kleinen Dorfkirche.

Francesco hatte ein paar Monate nach Papas Tod die Schule abgebrochen und ging seither auf dem großen Gutshof des Padrone arbeiten. Francesco musste, wie viele andere im Dorf, den ganzen Tag für ihn schuften, trotzdem zahlte der Padrone nur einen Hungerlohn. Wer im Dorf dagegen aufmuckte, verlor seine Arbeit.

„Für jeden, der sich zu gut fühlt, um für mich zu arbeiten, stehen zehn andere schon in der Warteschlange. Wem es nicht passt, was ich zahle, der kann es woanders versuchen“, verkündete der Padrone  jeden, der es hören wollte und lachte dabei schallend, als wäre das, was er sagte, lustig.

Mama wusch und bügelte für vornehme Stadtleute. Jeden Tag am Vormittag stand sie Stunden über dem Waschtrog und knetete und walkte. Ihre Hände wurden rissig und rau von der Seife und dem heißen Wasser. Am Nachmittag bügelte sie Stunde um Stunde, und am nächsten Tag in der Früh radelte sie mit den sorgfältig gebügelten Blusen, Hemden, Kleidern und Hosen den Hügel hinunter nach Terni zu  den vornehmen Häusern und lieferte alles an den Hintertüren für ein paar Centesimi ab, bevor sie ihren großen Korb hinten auf dem Fahrrad mit neuer Wäsche belud.

Jeden Tag, ja auch sonntags nach der Frühmesse, wartete der Wäschetrog auf sie.

Und als Nonno sie deshalb schimpfte, hörte Giulia, wie die Mutter leise ihrem Vater erwiderte, als dürften ihre Kinder es nicht hören: „Nonno, du weißt doch selbst, dass die Leute am Sonntag besser zahlen, weil sie ein schlechtes Gewissen haben, dass sie andere arbeiten lassen. Und das Geld können wir brauchen.“

„Ja, es ist schon richtig, dass ich helfen soll“, dachte Giulia in ihrem Versteck. Aber es war nicht richtig, dass nur sie helfen musste, und Giovanni wie ein kleiner Prinz überhaupt nichts machen musste. Das war gemein, und ihre Mama sollte endlich einmal kapieren, dass sie auch Giovanni um etwas bitten konnte. Gut, er war im vorletzten Winter monatelang krank gewesen, richtig krank. Sogar der Pfarrer hatte mehrmals vorbeigeschaut. Aber das war lange her, sehr lange her. Da hatte Papa noch keinen Unfall gehabt, hatte selbst für den Padrone gearbeitet, da war Francesco zur Schule gegangen und hatte davon geträumt mit einem guten Abschlusszeugnis auf die Polizeischule wechseln zu können, da hatte Mama noch nicht für fremde Leute gewaschen.

Wenn Giulia ihren Kopf aus den Büschen herausstreckte, konnte sie die beiden schmalen Fenster des Wohnzimmers sehen. Dort verbrachte Giovanni die meiste Zeit mit seiner Nase in den Büchern, die der Lehrer ihm borgte. Er passte nicht, wie die anderen Buben, nach der Schule auf die Ziegen auf, er rannte nicht mit ihnen um die Wette und er dachte nicht daran, dass er Giulia beim endlosen Unkrautjäten im Gemüsegarten auch einmal helfen konnte.

Und weder Mama noch Francesco schimpften ihn deshalb. Nein, Giovanni durfte der kleine Faulpelz sein.

„Es ist gemein, es ist gemein, es ist gemein“, murmelte Giulia, und heute würde sie  ihre Mutter rufen und rufen lassen, bis diese endlich einmal auf die Idee käme, dass Giovanni etwas für sie erledigen könnte. Das würde ihn bestimmt nicht umbringen.

Wenn Mama und Francesco nicht da waren, zwang Giulia Giovanni ihr zu helfen. Sie kommandierte ihn herum, und Giovanni gehorchte.

Wenigsten ein paar Minuten lang half er eifrig, dann aber murmelte er jedes Mal, dass er so müde war und dass ihm gerade auch ein bisschen schwindlig wurde und dass er sich ein wenig ausrasten müsste.

Und ohne auf Giulias Erlaubnis zu warten, ging er in den Schatten unter dem Orangenbaum im Garten oder zum bequemen Stuhl im Wohnzimmer, der wie ein Thron für ihn reserviert zu sein schien, und setzte sich.

„Du bist bloß ein fauler Hund“, schimpfte Giulia ihn dann. „Immer lässt du mich alleine arbeiten. Das ist gemein von dir. Du wirst nur deshalb so rasch müde, weil du es nicht gewohnt bist.“

„Wenn ich mich ein bisschen ausgeruht habe, mache ich weiter“, versprach Giovanni ihr dann leise.

Aber eigentlich war er nie richtig ausgeruht. Sogar der kurze Weg zur Dorfschule machte ihn an vielen Tagen so müde, dass er oft zu Hause blieb, obwohl er doch so gerne lernte.

Veröffentlicht unter Adventkalender

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