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Adventkalender – 7. Tag

Das Mädchen

Nachdem der Bäcker ihn fortgejagt hatte, suchte Nick einen ruhigen Platz. Er erinnerte sich an seine erste Begegnung mit Nikolaos unter dem knorrigen Feigenbaum draußen vor der Stadt. Dorthin wollte er zurückkehren, um im kühlen Schatten des Baumes über alles nachzudenken. Als er die Stelle erreicht hatte, setzte er sich hin, pflückte ein paar Feigen und aß sie nachdenklich.
Vor wenigen Tagen, dachte er, hatte er hier Nikolaos den Buben kennen gelernt. Mit ihm gemeinsam hatte er gestern den schweren Sack mit Geschenken für die alte Frau durch die nächtlichen Gassen getragen. Heute war Nikolaos als erwachsener Mann und Bischof von Myra gefangen genommen worden und er hatte ihn im Kerker unter dem Stadtpalast des Statthalters wiedergefunden.
„Das ist nicht möglich“, murmelte Nick.
Was dir nicht möglich erscheint, muss noch lange nicht unmöglich sein. Der Satz am Computerbildschirm kam ihm in den Sinn. Aber die Zeit, antwortete Nick in Gedanken. Dieselbe Zeit kann nicht unterschiedlich vergehen. In der Ewigkeit geschieht alles zur gleichen Zeit. Wieder erinnerte er sich an einen der Sätze auf dem Bildschirm.
„Ho, ho ho“, zitierte Nick das Programm, doch sein Kopf tat weh und nach Lachen war ihm nicht zumute. Er schloss die Augen, lehnte sich an den Stamm des Baumes und versuchte ruhig zu werden.
„Grüß dich Gott“, rief ihm eine Mädchenstimme zu.
Nick sprang vor Schreck auf. Vor ihm stand ein junges Mädchen. Am Rücken trug sie ein Bündel Brennholz.
„Wer erschrickt denn gleich so furchtbar, wenn man ihn in Gottes Namen freundlich grüßt?“, sagte das Mädchen und schaute ihn aus lächelnden Augen an.
Nick drehte sich ängstlich um. Es war gefährlich, von Gott zu sprechen. Soviel hatte er in den letzten Stunden gelernt.
„Sei doch still. Sonst hört dich noch jemand und verrät an die Soldaten des Kaisers, dass du ein Christ bist“, flüsterte Nick.
Das Mädchen schaute ihn überrascht an.
„Erstens ist hier niemand außer uns beiden und zweitens hast du anscheinend vergessen, dass die Christenverfolgung seit einigen Jahren vorbei ist. Kaiser Diokletian ist abgetreten und Konstantin der Große mag uns Christen, auch wenn er selbst noch nicht getauft ist.“ meinte sie.
Nick schluckte. Schon wieder war die Zeit rascher vergangen, ohne dass er es bemerkt hatte. Er dachte an Nikolaos. Was war mit ihm in dieser Zeit geschehen?
„Wer ist denn jetzt Bischof in Myra?“, fragte er vorsichtig.
„Bischof in Myra?“. Das Mädchen schaute ihn überrascht an. „Du bist wohl nicht von hier?“ meinte sie dann. „Der Bischof von Myra ist Nikolaos. Du musst von sehr weit her kommen, denn seine gütigen Taten sind sogar auf Rhodos bekannt.“
Nick atmete erleichtert auf. Nikolaos hatte die Christenverfolgung überlebt. Er überlegte, ob er nach Myra zurücklaufen sollte. Aber würde sich Nikolaos überhaupt noch an ihn erinnern? Nick zögerte. Eigentlich traute er sich nicht, einfach zu einem Bischof zu gehen. Er wollte die Entscheidung darüber noch ein wenig hinausschieben.
„Ich bin Nick. Soll ich dir helfen das Brennholz zu tragen?“ fragte er das Mädchen.
„Ich bin Anna und das wäre nett von dir. Zu zweit können wir mehr tragen. Ich wohne nicht weit von hier.“
Eifrig teilte das Mädchen das Bündel. Nick klaubte noch einige herabgefallene Äste vom Feigenbaum auf. Dann schulterten sie das Holz.
Nick folgte dem Mädchen.
„Ich wohne mit meinen Schwestern bei meinem Vater. Wir sind arme Leute. Oder besser gesagt, wir waren bis vorgestern arme Leute. Aber ich soll es niemanden erzählen. Denn das Glück hat viele Neider, meint mein Vater“ plauderte sie.
„Mir kannst du es erzählen“, sagte Nick neugierig, „Ich bin bestimmt nicht neidisch.“

Veröffentlicht unter Adventkalender

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