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Adventkalender – 9. Tag

Der Kleinbus

„Ja, welcher Idiot stellt denn seinen Tisch mitten auf dem Weg nach einer unübersichtlichen Kurve ab?“, schimpfte eine Frauenstimme. Aleyna, Opa Hamid und Yasin waren so erschrocken, dass sie keine Antwort geben konnten.
„Ja, muss ich den Tisch etwa selbst zur Seite schieben?“, zeterte die Frauenstimme, und die Fahrertür wurde resolut geöffnet. Zu Aleynas Erstaunen hüpfte ein kleiner Mann aus dem Kleinbus und baute sich vor ihnen auf.
Er trug einen weiten dreckigen Mechanikeroverall, unter dem er mehrere dicke Pullover trug, sodass sein ganzer Oberkörper ausgestopft wirkte. Auf seinem Kopf trug er eine dunkelblaue schlabberige Strickmütze.
„Alleine schieb ich den Tisch nicht weg. Helft mal schön mit“, verlangte der Mann. Er hatte tatsächlich eine hohe Frauenstimme.
„Was starrt ihr denn so?“, fragte der Mann, um dann seinerseits plötzlich erschrocken innezuhalten. Er schlug die Hände vor dem Mund. „Jetzt habe ich mich doch verraten. Aber nur weil mich dieser Tisch so überrascht hat“, murmelte er. „Naja.“ Mit einem Ruck zog er die Strickmütze vom Kopf und darunter verbarg sich, wie Aleyna, Opa Hamid und Yasin sehen konnten, dichtes langes Haar, das jetzt nach allen Seiten hinunter fiel.
Der Mann war eine Frau, und sie schob die Haare aus dem Gesicht.
„Ist sicherer, so zu reisen“, sagte sie knapp.
Opa Hamid verbeugte sich ein wenig und sagte höflich: „Eine Sekunde, und wir haben unseren Tisch entfernt, meine Dame, und dann können Sie weiterfahren.“
„Die Zeiten, dass ich eine Dame war, sind vorbei, mein Herr“, erwiderte die Frau genauso höflich. „Und wenn ich es mir jetzt so recht überlege, war es für uns sowieso an der Zeit für eine kleine Pause. Wir haben seit dem Frühstück nicht gerastet.“
„Wir?“, fragte Yasin und blickte neugierig zum Kleinbus, als erwartete er, dass noch weitere als Männer verkleidete Frauen aussteigen könnten.
„Meine drei Töchter“, sagte die Frau und klatschte in die Hände.
„Alles in Ordnung“, rief sie zum Bus hinüber. „Es sind freundliche Menschen, ein alter und ein junger Mann und ein Mädchen. Ihr müsst euch keine Sorgen machen. Ihr könnt raus kommen.“

In der Türöffnung erschien ein Mädchen. Es war ungefähr sechs Jahre alt und trug eine große, dunkle Sonnenbrille
„Wo bist du, Mama?“, fragte es, obwohl seine Mutter nicht einmal drei Meter von ihr entfernt stand.
„Hier bin ich, Yasmina“, sagte die Frau sanft und ging auf das Mädchen zu.
Aleyna beobachtete, wie die Frau zuerst Yasmina und dann weiteren zwei Mädchen mit Sonnenbrillen, eines noch ganz klein, bestimmt nicht älter als drei, und einem Mädchen in ihrem Alter, aus dem Bus half. Aleyna konnte sehen, dass alle drei Mädchen blind waren.

„Ein Gasangriff“, sagte die Frau leise zu Opa Hamid, Yasin und Aleyna. „Sie spielten draußen im Hof.“ „Aber wir werden es bis Deutschland schaffen. Dort wird man sie behandeln“, setzte sie laut fort
Die Mädchen nickten ernst.
„In Deutschland“, erklärte das älteste Mädchen zuversichtlich, „gibt es gute Ärzte, die wissen, wie man meine Augen wieder gesund macht.“
„Genau Shirin“, sagte die Frau. „Deine Augen, Yasminas Augen und Ranas Augen.“
„Und Papa ist auch schon dort“, fügte Shirin hinzu.
„Bestimmt“, sagte die Frau, aber ihre Augen schauten besorgt.
„Er ist vor einem Monat aufgebrochen. Er weiß nicht, was daheim passiert ist. Wir sollten warten, bis er sich meldet und uns die sicherste Reiseroute mitteilt. Aber jetzt konnte ich nicht länger warten. Also habe ich alles veräußert und mit dem Geld diesen kleinen Bus gekauft. Drei Tage sind wir schon unterwegs, auf Nebenstraßen. Auf den großen Straßen sind mir zu viele Leute unterwegs, und wenn die meine Verkleidung durchschauen und merken, dass ich und meine Mädchen ohne Schutz reisen, dann …“ Sie hörte auf zu reden, als sie die ängstlichen Gesichter ihrer Kinder sah. „Hier kann uns gar nichts passieren, und wo wir schon mal einen Tisch haben, wollen wir gemeinsam essen. Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, dass wir ihn benützen.“
Opa Hamid machte eine gastfreundliche Geste und Yasin sagte: „Da wir nichts haben, was wir draufstellen könnten, dürft ihr ihn gerne benützen. Wir warten solange.“
„He“, die Frau schaute ihn belustigt an. „Ich habe gesagt gemeinsam essen, oder habt ihr etwa keinen Hunger?“
Als Antwort fing Aleynas Magen laut zu knurren an.

Veröffentlicht unter Adventkalender

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