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Adventkalender – 8. Tag

Ein Tisch mitten auf dem Weg

Opa Hamid, Yasin und Aleyna gingen ohne ein Ziel durch die Straßen. Sie hatten jetzt auch keine Kammer mehr und kein Bett. Sie hatten nur mehr einen kleinen Koffer mit wertlosen Sachen und einen Tisch. Jedes Mal, wenn Yasin den Tisch müde abstellte, schaute Aleyna ihn solange mit flehenden Augen an, bis er ihn wieder mit einem Kopfschütteln und einem Seufzer schulterte.
Keiner von ihnen wusste, wohin sie gehen sollten. Keiner wusste, ob sie heute noch eine leistbare Unterkunft finden würden.
„Aber weil wir den Tisch haben, wird das Schlimmste nicht passieren“, dachte Aleyna. „Auch wenn wir draußen schlafen müssen, können wir darunter kriechen.“

Ohne es wirklich zu merken, steuerte Yasin von der Stadtmitte weg hinaus zum Rand. Und irgendwann gelangten sie an eine schmale, ungepflasterte Straße, die aus der Stadt hinaus nach Nordwesten zum Meer führte. Früher war es wohl ein Feldweg gewesen. Jetzt lag links und rechts nur steiniges Brachland.
Als sie eine ganze Weile über den Feldweg getrottet waren, stellte Yasin den Tisch ab. Er beschattete mit seiner Hand die Augen und starrte nach vorne.
„Da hinten am Horizont liegt das weite, blaue Meer“, sagte er versonnen. „Und hinter dem Meer liegen neue Länder. Länder, in denen es keinen Krieg gibt, in denen nicht geschossen wird. Länder, wo Menschen ohne Angst leben. Wo Kinder den ganzen langen Tag unbeschwert lachen können.“
„Kannst du es denn sehen?“, fragte Aleyna eifrig. Sie hatte nicht gewusst, dass das Friedensland so nah war. Warum waren sie nicht schon vor Wochen dorthin aufgebrochen? Sie klettert rasch auf den Tisch. Aber so sehr sie sich auch streckte, die staubige Straße wand sich endlos und verschwand in einem flimmernden unscharfen Punkt.
„Wo ist das Meer?“, fragte sie.
„Es ist nicht so weit“, versicherte Yasin. „Ein paar Tage fest marschieren und wir stehen am Strand. Dort suchen wir ein Boot und schieben es ins Wasser.“ Er spannte seine Armmuskeln an. „Schau Aleyna, mit meinen starken Armen rudere ich dich und Opa hinüber.“
„Und wenn alle Boote schon weg sind?“, fragte Aleyna. Yasin hatte schließlich erzählt, dass sich jeden Tag hunderte Menschen auf den Weg machten. Und wo waren eigentlich all diese Menschen? Hier auf der Landstraße waren sie ganz alleine. Waren sie überhaupt auf dem richtigen Weg? Hatte Yasin nicht gesagt, dass er ein paar Tage bräuchte, um sich einen guten Plan auszudenken? Und jetzt waren sie einfach losmarschiert. Sie schaute von Yasin zu Opa Hamid, der sich müde an den Tisch lehnte.
„Du gehst jetzt mit uns mit, oder?“, fragte sie.
Opa Hamid nickte. „Es hat sich wohl irgendwie ergeben“, sagte er. „Und ich muss Yasin recht geben. So weit weg ist das Meer gar nicht. Ich glaube, ich könnte es schaffen.“ Er lächelte.
„Und wenn es dort keine Boote mehr gibt?“, fragte Aleyna nochmals.
„Na ja.“ Opa Hamid überlegte. Dann klopfte er auf den Tisch und sagte auf einmal verschmitzt: „Das ist für uns kein unüberwindbares Problem. Wir haben ja unseren Tisch dabei. Wir können ihn zu einem Floß umbauen.“
„Wirklich?“ Aleyna schaute Yasin an. Der nickte. „Kein Problem. Ein Gemüsekistentischfloß habe ich auch im Handumdrehen gebaut.“
Aleyna lachte und Opa Hamid schaute sie liebevoll an.
„Du lachst meine müden Füße wieder munter“, sagte er.
„Dann werde ich in Zukunft ganz oft lachen“, versprach Aleyna.

Plötzlich tauchte in der Kurve hinter ihnen ein Kleinbus auf. Der Fahrer musste fest auf die Bremse steigen und das Fahrzeug kam ein paar Meter vor dem Tisch zum Stillstand. Steinchen spritzten gegen Aleynas Beine.

Veröffentlicht unter Adventkalender

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