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Adventkalender – 22. Tag

Der Friedensfürst

Und wie wenn der Dschinn mit dem glücklichen Murmelwurf wieder seine Aufgabe übernommen hatte, ließ das nächste Wunder nicht lange auf sich warten.
Es gab tatsächlich Busse. Sie warteten auf einem Parkplatz vor dem nächsten Ort, und Polizisten schleusten die Menschen von der Straße dorthin.
Es machte Aleyna, Yasin und Opa nichts aus, dass sie sich zu dritt auf zwei Sitze quetschten. Es war auch nicht schlimm, dass sie hungrig waren und nichts dabei hatten.
Während sie die Landstraße entlang fuhren, drückte Aleyna ihre Nase gegen die Fensterscheibe. Es hatte wieder angefangen zu regnen. Aber hier im Bus war das egal.
„Bringt er uns ins Friedensland?“, fragte sie Opa.
Zwei junge Frauen vor ihnen drehten sich um.
„Nicht ganz“, sagte die eine freundlich. „Aber beinahe. Sie fahren uns quer durch Ungarn an die österreichische Grenze. Dort lässt man uns aussteigen.“
„Zur Grenze! Gibt es dort wieder einen Zaun?“ Aleynas Stimme zitterte. Sie hatte Angst vor einem weiteren Zaun. Ein zweites Mal würde sie Opa und Yasin bestimmt nicht wieder finden können. Sie hatte keine Murmeln mehr. Sie tastete in ihrer Manteltasche. Da waren nur mehr das stumpfe Taschenmesser und diese alte Ansichtskarte. Mit einem Taschenmesser durfte man nicht werfen. Und die alte Karte würde wie ein Blatt durch die Luft segeln. Damit konnte man nicht zielen.
„Nein“, beruhigte sie das andere Mädchen. „Schau.“ Sie hielt Aleyna ihr Handy hin. Auf dem Bildschirm war eine große Halle zu sehen und davor standen Busse.
„Wir steigen dort um und werden nach Wien gebracht, und von dort geht es mit dem Zug nach Deutschland. Wir haben einen Onkel dort!“
Deutschland. Dorthin wollten auch Shirin, Yasmina und Rana mit ihrer Mutter. „Deutschland ist endlich das richtige Friedensland?“, fragte Aleyna deshalb.
„Nicht nur Deutschland. Sobald wir in Österreich sind, fängt das Friedensland an. Wo wollt ihr denn genau hin?“
„Das ist uns nicht so wichtig“, antwortete Yasin für Aleyna. „Hauptsache Frieden, keine Kämpfe, keine Bomben, kein Schießen. Ein Ort, wo Aleyna zur Schule gehen kann, und Opa und ich arbeiten können. Außerdem können wir uns eine Zugfahrt nicht leisten, und wenn der Bus von der Grenze weg auch etwas kostet, werden wir wieder zu Fuß weitergehen, bis jemand uns sagt, dass wir willkommen sind und bleiben dürfen.“
Aleyna hörte Yasin zu. So wie er das sagte, würde es nicht mehr lange dauern. „Vielleicht“, dachte sie auf einmal schläfrig, „würden sie zu Weihnachten ein neues Zuhause haben.“
Weihnachten. Das dauerte nicht mehr lange. Sie hatte am Handy das Datum gesehen. Der 21. Dezember. In drei Tagen war es so weit. In den Kriegsjahren hatten sie das Fest zwar gefeiert. Gemeinsam mit den anderen Christen im Viertel hatten sie in der Kirche gesessen und um Frieden gebetet. Jesus war ja der Friedensfürst, aber er hatte nie den Frieden mitgebracht, obwohl sie sich das alle immer so sehr gewünscht hatten.
„Weißt du, wenn kein Frieden im Herzen aller Menschen ist, hat der Friedensfürst keinen Platz bei uns in Syrien“, hatte Opa ihr nach dem letzten Weihnachtsfest traurig erklärt. „So wie Jesus damals keinen Platz in Betlehem fand. Die Menschen haben ihm einfach die Tür vor der Nase zugemacht.“
„Bei mir hätte er aber Platz“, hatte Aleyna letztes Jahr gerufen. „Und bei dir doch auch, bei uns allen in der Familie! Warum kommt er dann nicht wenigsten zu uns?“
Darauf hatte Opa keine richtige Antwort gewusst und nur leise gesagt: „Vielleicht im nächsten Jahr. Vielleicht im nächsten Jahr.“

Jetzt war es soweit.
Aleyna wollte nicht an ihr altes Zuhause denken. Das tat zu weh und dort hatte Jesus auch gar keinen Platz mehr. Dort hatten sie selbst keinen Platz mehr. Aber in diesem Friedensland? Dorthin würde er doch kommen? Denn dort gab es viele, viele Menschen, die ihm die Türen aufmachten.
Und auch uns, dachte Aleyna. Bestimmt auch uns. Das wusste sie genau. In einem Friedensland war es deshalb so schön und gut, weil die Menschen ihre Herzen weit offen hatten.
Und mit diesem schönen Gedanken schlief sie ein.

Veröffentlicht unter Adventkalender

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