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Adventkalender – 19. Tag

Der Riesen-Tausendfüßler

„Wir müssen dorthin“, sagte Opa Hamid leise. „Wir können nicht hier im Wald übernachten. Es ist schon viel zu kalt. Und bis auf ein wenig Brot und eine Wasserflasche haben wir nichts zu essen. Nein Aleyna, wir werden umdrehen und zurückgehen.“
Aleyna wusste, dass Opa Recht hatte. Aber die Idee zu der letzten großen Straße zurückzugehen und sich dort hinzusetzen, wo schon so viele Flüchtlinge wie sie saßen, in diesem Käfig aus Gittersperren, Betonklötzen und Stacheldraht, das war schrecklich. Einer der Männer hatte ihnen zugerufen, dass sie bleiben sollten, weil bald Busse kämen, die sie durch Ungarn nach Österreich fahren würden.
Aber eine Frau hatte gerufen, dass sie seit zwei Tagen dort säße und noch immer keinen Bus gesehen hatte. Da waren sie lieber rasch weiter gegangen. Und jetzt mussten sie dorthin zurück.
„Es ist dort wie im Gefängnis“, flüsterte Aleyna. „Und wir haben doch nichts verbrochen.“
Opa Hamid nahm sie in die Arme.
„Wir haben nichts verbrochen. Wir haben nur Pech, dass der Krieg in unserem Land alles kaputt macht und dass nicht nur du und Yasin und ich in ein Friedensland wollen, sondern Abertausende. Weißt du, das ist wie die Ameisen in Omas Küche früher. Wenn die erste Ameise nach dem Winter ihre Aufwartung machte, hat Oma gerufen: Willkommen, der Frühling ist da. Waren es dann drei Dutzend, hat das Oma auch nicht aus der Fassung gebracht. Die durften in der Küche sein, solange sie am Boden blieben. Aber wenn es hunderte gar tausende auf einmal waren, hat sie das Insektenpulver gestreut, um sie von der Küche fernzuhalten. Ein und dieselbe Ameise konnte also ein willkommener Frühlingsbote, ein geduldeter Gast oder ein Eindringling sein. “
Aleyna musste darüber nachdenken, während sie den Weg zurück zur Straße marschierten. Und als sie die Absperrungen dort sah, klammerte sie sich an Opa Hamid und drückte ihn ganz fest, und sie spürte, wie ihr Herz ganz rasch klopfte. So war es also, Opa, Yasin, sie selbst und all die anderen waren Ameisen. Und dieser Zaun sollte sie fernhalten.
„Nur Mut“, sagte Opa.
„Wir kommen da hinüber“, murmelte Yasin entschlossen „und wenn ich einen Tunnel für uns graben muss.“

Aleyna wusste, dass man niemals böse auf seinen Dschinn werden sollte, aber sie konnte sich nicht helfen. Ihr Dschinn war ein miserabler Dschinn.
In der Türkei, als sie im großen Zelt schliefen, hatte er für drei Feldbetten gesorgt. Jetzt hockten sie zusammengepfercht zwischen fremden Menschen auf dem kalten Boden.
Und die Menschen um sie herum wurden mit jeder Stunde in der Kälte verzweifelter, und als es in den frühen Morgenstunden auch noch anfing zu regnen, bekam Aleyna Angst. Denn immer mehr Menschen standen auf, fingen an zu drängen.
„Wir wollen rüber. Wir wollen rüber“, riefen sie. „Nach Deutschland. Nach Deutschland“, riefen sie. Das Rufen wurde zu einem Schreien und Brüllen. Opa Hamid, Yasin und Aleyna fassten sich an den Händen. Sie wurden mitgezogen von den anderen. Aber vorne bei der Straße hatten die Soldaten Gitter hingestellt. Und von hinten kamen immer mehr Leute.
„Rüber, Rüber“ riefen alle.
Aleyna fühlte, wie ihre Hände aus Opas und Yasins Händen glitten. Und dann wurde sie wie von einer riesigen Welle von Menschen mitgeschwemmt.
„Opa! Yasin!“
Aber ihre Stimme ging unter und es blieb ihr nichts anderes übrig als mitzulaufen.
Wie ein riesiger Tausendfüßler wälzte sich die Menschenmenge über die Straße. Nichts würde dieses gewaltige Tier mehr bremsen. Die Soldaten, die die Grenze bewachten, erkannten die Gefahr.
„Weg mit dem Gitter!“, rief einer dem anderen zu. „Sonst gibt es Verletzte, gar Tote.“ Hastig schoben sie die Absperrung zur Seite. Der Tausendfüßler rannte an ihnen vorbei, hunderte Schuhe trommelten über den Asphalt. Ein Soldat versuchte noch zu zählen. Waren es vierhundert Menschen, achthundert oder gar tausend? Er gab auf. Es waren zu viele, Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge.

Veröffentlicht unter Adventkalender

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