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Adventkalender – 16. Tag

Das Buch der Zeit

Jeden Tag in der Früh machten sie sich auf den Weg und marschierten. Opa Hamid bestand darauf, die kleinen, schmalen Straßen zu nehmen, wo es kaum Verkehr gab. „Einen Bus können wir uns nicht leisten, warum also Abgaswolken und Staub schlucken“, sagte er.
Kamen sie in ein Dorf, fragte Yasin überall nach, ob er denn nicht etwas arbeiten könnte für etwas zu Essen oder für eine Übernachtung. Er fragte so höflich, dass er immer wieder jemanden fand, der ihm eine Arbeit gab. Er grub einen Gemüsegarten um, hackte Holz, half mit ein Dach zu decken, oder mistete einen Stall aus. Dafür gab es Brot, Gemüseeintopf und Tee für Opa Hamid, Aleyna und ihn selbst. Wenn sie Glück hatten, gab ein Bauer ihnen sogar die Adresse von einem Verwandten oder Freund im nächsten Dorf mit.
So kamen sie zu dritt langsam aber stetig voran.
„Bestimmt sind die drei Mädchen mit ihrer Mutter längst in Deutschland“, dachte Aleyna manchmal ein wenig neidisch, wenn sie des ewigen Gehens überdrüssig war. Aber der Neid dauerte nie lange. Sie hatte Opa Hamid und Yasin. Sie waren in einem Land unterwegs, wo die allermeisten Menschen freundlich waren, und sie hatte ihre Augen, mit denen sie alles um sie herum sehen konnte. Nein sie hatte wirklich keinen Grund neidisch zu sein auf Shirin, Yasmina und Rana.

Eines Abends, als sie zu dritt in einer kleinen Taverne saßen und aßen, Yasin hatte dem Wirten den ganzen Nachmittag bei der Arbeit geholfen und auch Aleyna hatte in der Küche fleißig das Geschirr gespült, trat ein alter Mann an ihren Tisch heran.
„Salam“, grüßte er.
„Der Friede sei auch mich Euch“, grüßte Opa Hamid zurück.
„Woher kommt Ihr denn?“, fragte der alte Mann.
„Aus Aleppo“, sagte Yasin.
„Eine schöne Stadt.“
„Ja, es war die schönste Stadt auf der ganzen Welt“, antwortete Opa Hamid. „Jetzt ist es ein Trümmerhaufen.“
Der alte Mann schwieg eine Weile.
„Einmal“, sagte er schließlich bedächtig, „einmal wird es auch wieder eine Zeit geben, in der Aleppo noch schöner als zuvor sein wird. So ist der Lauf der Dinge.“
„Wirklich?“, fragte Aleyna.
„Ja, mein Mädchen. Wir Menschen machen leider immer wieder alles kaputt, aber wir Menschen besitzen auch die Gabe, alles wieder aufzubauen.“
„Wann?“, fragte Aleyna.
„Ja, wann“, sagte der alte Mann. „Wenn wir bloß im großen Buch der Zeit auch jene Seiten lesen könnten, die Morgen und Übermorgen und irgendwann heißen. Dann wüssten wir es. Aber eines ist sicher, irgendwo in diesem Buch, in dem Teil, den wir jetzt noch nicht lesen können, steht eine wunderschöne, neue Stadt beschrieben.“
„Aleppo“, flüsterte Aleyna.
„Ja, Aleppo“, sagte der alte Mann, und er strich Aleyna über das Haar. Dann wandte er sich an Opa Hamid.
„Verzeihen Sie mir, dass ich mich so aufdränge, aber Sie sind offensichtlich unterwegs.“ Es war mehr eine ruhige Feststellung als eine Frage.
„Ja, nach Europa. Ich wünsche mir, dass zwischen uns und dem Krieg ein ganzes Meer liegt“, antwortete Yasin statt Opa Hamid.
„Das dachte ich mir schon.“ Der alte Mann lächelte. „Und deshalb möchte ich euch Dreien einen Vorschlag machen.“

Veröffentlicht unter Adventkalender

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