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Adventkalender – 13. Tag

Opa Hamid

Opa Hamid fing an zu wanken. Mit seinen Händen griff er an sein Herz. Er krümmte sich, stöhnte, schnaufte und sackte dann lautlos zu Boden.
„Opa“, schrie Aleyna, die vergaß, was Opa ihr soeben zugeflüstert hatte. „Opa!“, schrie sie noch lauter und verzweifelter.
Yasin, der nichts sehen konnte, fing an zu brüllen: „Was ist los? Was ist mit Opa?“
Die drei blinden Mädchen fielen mit ein.
„Opa, Opa“, gellten ihre Schreie über das Gelände.
Die Frau steckte die Ausweise zurück in die Tasche und kniete neben dem alten Mann nieder. Ihre Hände zitterten, als sie nach dem Puls tastete.
„Oh mein Gott. Oh mein Gott“, rief sie. „nicht jetzt auch noch mein Vater. Bin ich denn nicht geprüft genug mit meinen blinden Kindern?“
Ein fremder Mann neben ihnen rief den Grenzbeamten und den Soldaten laut zu: „Wo ist ein Arzt? Holen Sie doch einen Arzt! Oder wollen Sie zuschauen, wie dieser Mann hier im Staub stirbt?“
Ein anderer rief: „Gleich hinter der Grenze ist ein Zeltlager dort gibt es Krankenhauszelte von den Ärzten ohne Grenzen. Die können helfen!“
„Was wartet ihr denn noch“, schrie die Frau, und sie fing an Opa Hamid hoch zu zerren.
Die beiden Männer packten mit an und ohne noch auf die Soldaten und Grenzbeamten zu warten, trugen sie zu dritt Opa Hamid über die Grenze.
„Wartet auf uns“, rief Aleyna. Einer der Soldaten wollte ihr den Weg versperren, aber da riefen die Wartenden: „Ihr werdet doch nicht blinde Kinder von ihrer Mutter trennen!“
Der Soldat trat einen Schritt zurück und Aleyna mit Yasin und den drei blinden Mädchen, die sich alle gegenseitig an der Hand hielten, rannte stolpernd über die Grenze.

Im Krankenhauszelt spülten die Ärzte den Pfeffer aus Yasins Augen. Auch hatten sie Augentropfen für Yasmina, Shirin und Rana. Opa Hamid dagegen hatte überhaupt keine Hilfe nötig. Wie durch ein Wunder hatte er sich, sobald die Grenze außer Sicht war, wieder erholt.
„Es war wohl die Aufregung“, sagte er und blinzelte Aleyna zu. „In meinem Alter ist Aufregung das reine Gift.“
Da begriff Aleyna, was Opa Hamid gemacht hatte. Er hatte alles nur gespielt.
„Ich habe wirklich Angst um dich gehabt“, flüsterte Aleyna und umarmte ihn.
„Das war auch gut so“, antwortete Opa Hamid. „Sonst wären die Grenzbeamten nicht darauf hereingefallen.“

Die zwei fremden Männer nickten.
„Wir sind auch darauf hereingefallen, aber durch Sie sind wir auf diese Weise auch über die Grenze gekommen.“ Sie schüttelten Opa Hamids Hand und verabschiedeten sich. „Wir müssen schauen, wie wir weiter kommen. Vielleicht finden wir einen Bus, der uns mitnimmt.“
Einen Bus!
Aleyna hatte nicht mehr an den Bus gedacht. Der Kleinbus der Frau stand noch auf der anderen Seite der Grenze!
„Oh nein“, sagte sie laut. „Wir haben vergessen den Bus mitzunehmen.“
„Ja“, sagte die Frau. „mit allem, was da drinnen war. Nur meine Handtasche habe ich noch.“
„Kannst du ihn holen, Mama?“, fragte Rana. „Meine Puppe! Ich habe sie im Bus gelassen, als wir aussteigen mussten.“
„Das ist viel zu riskant, Rana. Wir werden wohl ohne Bus weiterreisen müssen.“
„Aber!“ Ranas Unterlippe zuckte verräterisch.
Aleyna bückte sich zu ihr.
„Wir werden bald eine fremde Sprache lernen müssen“, sagte sie „und Puppen können das nicht, Sie wären in einem anderen Land deshalb sehr traurig. Meine Puppe ist auch daheim geblieben. Und weißt du, was mit Puppen passiert, wenn sie zurückbleiben?“
„Was denn?“, fragte Rana neugierig geworden
„Sie werden Dschinns.“
„Dschinns?“
„Du weißt doch, Zaubergeister, die Wünsche erfüllen. Ich habe meine Puppe gefragt, ob sie mich zusammen mit Yasin und Opa über die Grenze bringen kann. Und schau, es ist ihr gelungen. Und was wünscht du dir, Rana?“
Rana überlegte.
„Ich wünsche mir so vieles“, sagte sie schließlich. „Wie viele Wünsche erfüllt meine Puppe denn?“
„Hast du sie sehr lieb gehabt?“
„Ja.“
„Dann darfst du dir auch zwei Sachen wünschen. Aber es kann dann schon ein bisschen dauern, bis es in Erfüllung geht. Da darfst du nicht ungeduldig werden.“
„Ich wünsche mir, dass wir bald, ganz bald in Deutschland bei Papa sind und dass meine Augen auch wieder gesund werden.“
„Siehst du“, sagte Aleyna und umarmte Rana, „genau deshalb ist deine Puppe in Syrien geblieben. Denn das sind so große Wünsche, die nur ein Dschinn erfüllen kann.“

„Und ich hoffe, dass dieser Dschinn uns als erstes einen Platz in einem dieser Zelte zum Übernachten gibt“, sagte die Frau, und dieser Wunsch ging schnell in Erfüllung.

Veröffentlicht unter Adventkalender

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