Menü Schließen

Adventkalender – 19 – Gesellen ohne Moral

Die Tür öffnete sich, ein Lichtkegel erhellte ein Stück des Tunnels, und eine übelriechende Gestalt blickte hinaus. Sie hatte ein graues Fell, das an vielen Stellen kahle Löcher aufwies. Sie trug mottenzerfressene Lumpen, genagelte Stiefel und einen zerbeulten Piratenhut. Sie war größer als eine Maus und hatte eine spitze Schnauze. Sie hatte nur ein Auge, das starr und kalt, wie eine Perle, in den Gang hinaus blickte. Dort wo das andere Auge hätte sein sollen, war eine Augenklappe aus blutrotem Samt. Ruprecht duckte sich und kauerte sich gegen die Wand im Schatten außerhalb des Lichtkegels.
Er wußte jetzt dass die Stimmen nicht zu Geistern, sondern zu Ratten gehörten, aber das erleichterte ihn nicht. Im Gegenteil Ratten waren Abschaum, Gesellen ohne Moral und Ehre, die Spaß daran hatten, Mäuse zu fangen, als Sklaven zu halten, sie zu quälen und zum Schluss zu töten.
Die Ratte stand leicht schwankend in der Türöffnung, schaute in den dämmrigen Tunnel hinaus und sagte: „Ich hatte das Gefühl, dass man uns belauscht!“
Ruprecht hielt den Atem an.
Von drinnen hörte er die anderen Ratten lachen und eine Stimme rief: „Du hast zuviel gesoffen und jetzt hörst du schon weiße Mäuse überall. Mach die Tür zu und komm. Wir müssen die Einzelheiten des Planes noch besprechen“. Die Ratte rülpste, warf noch einen unsicheren Blick in den Tunnel, drehte sich dann mühsam um und ging wieder hinein. Die Tür fiel ins Schloss. Ruprecht zitterte am ganzen Leib. Für den Moment war die Gefahr gebannt.
Er stand mit weichen Knien auf und fing an zurück zu laufen, um die anderen zu warnen. Er war schon ein gutes Stück vorangekommen, als er leise Schritte im Tunnel hörte. Er starrte in die Finsternis, konnte aber nichts erkennen. Jetzt würde man ihn unweigerlich erwischen. Es gab keinen Fluchtweg. Die Schritte kamen näher und näher. Er schlug die Hände vor das Gesicht.
„Ruprecht, Ruprecht, wo bist du“, rief eine Stimme leise und besorgt.
Ruprechts Herz machte einen riesigen Sprung.
„Papa“, flüsterte er und rannte wie der Blitz in die Arme seines Vaters. Er vergrub seinen Kopf in den warmen Pullover und umklammerte mit Armen und Beinen seinen Vater.
„Papa, es gibt Ratten hier“ stotterte Ruprecht aufgeregt.
„Ratten“, fragte Nikolaus besorgt.
„Ja und sie haben einen Kompott“, antwortete Ruprecht.
„Einen Kompott?“
„Ja, einen Plan. Einen Kompottplan. Sie wollen die Herrschaft übernehmen und alle nach ihrer Pfeife tanzen lassen“, berichtete Ruprecht, der sich jetzt bei seinem Vater sicher fühlte.
Nikolaus schauderte. Vor langer Zeit, als er noch jung gewesen war, war er einmal einer ausgehungerten, schwerkranken Maus begegnet. Diese hatte von einer Rattenherrschaft berichtet. Die Ratten hatten überraschend das Haus, in dem sie gewohnt hatte, überfallen, alle Mäuse gefangen genommen und verschleppt. Monatelang mussten sie streng bewacht in dunklen Verliesen unterhalb einer Mülldeponie wohnen und Tag und Nacht für die Ratten Sklavenarbeit leisten. Viele waren gestorben nur ihr war durch Zufall die Flucht gelungen. Nikolaus hatte die Maus zu seiner Familie mitgenommen, doch war sie bald darauf vor Kummer gestorben.
Nikolaus musste daran denken. Mit einem Schlag war die Zukunft, die so hoffnungsvoll für sie ausgesehen hatte, wieder finster und bedrohlich.
Nikolaus fasste einen Beschluss.
„Ruprecht, du gehst sofort zu den anderen. Sie sollen sich gut verstecken“, sagte er.
„Und Du, Papa?“ piepste Ruprecht.
„Ich werde versuchen herauszubekommen, was die Ratten planen“, antwortete Nikolaus, und, ohne sich noch einmal umzudrehen, ging er fort.
Ruprecht blickte ihn nach und rannte dann zu den anderen.

Veröffentlicht unter Adventkalender

Ähnliche Beiträge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner