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Adventkalender – 24. Tag

Christkindl

Yasin drehte die Karte um und betrachtete lange die Zeilen.
„Das da unten“, sagte er wie ein Polizist, der ein Verbrechen aufklärt, „das da unten muss die Adresse von diesem Kind sein. So schreibt man nämlich Adressen.“ Yasin stutzte. „Da steht Österreich. Diese Karte kommt aus Österreich! Und wir, wir sind jetzt in Österreich.“
„Das ist ein lustiger Zufall“, sagte Opa.
Aber Aleyna begriff, dass es viel mehr als ein Zufall war.
Ihr Gesicht wurde rot vor Aufregung, und sie wollte Opa und Yasin schon erzählen, was sie auf einmal ganz genau wusste, aber Opa hatte keine Zeit.
„He, da drüben steht wieder der Mann, der uns gestern Nacht begrüßt hat. Ich gehe mal hinüber und frage, wie es weiter geht. Wartet hier.“ Und schon war Opa weg.
Yasin wollte ihm nachlaufen. Er war schließlich kein Kind mehr, und als Mann sollte er mit Opa gemeinsam die Entscheidungen treffen.
„Nein Yasin, bleib hier!“ Aleyna hielt ihn an der Jacke fest.
„Wir sind im Friedensland. Hier musst du keine Angst haben“, schimpfte er, aber als er Aleynas vor Aufregung gerötetes Gesicht sah, blieb er bei ihr.
„Was ist denn?“, fragte er.
„Diese Karte, Yasin, ist ein Zeichen. Ein Zeichen von meinem Dschinn. Ganz bestimmt.“
„Es gibt keine Dschinns.“
„Ja, das weiß ich, aber die Karte ist ein Zeichen. Kannst du nicht auch herausfinden, wo dieses Bild fotografiert wurde? Schau da steht doch etwas. “
Yasin nahm die Karte wieder.
Unten am Rand des Bildes war etwas aufgedruckt.
„Christkindl bei Steyr“, las er.
„Christkindl bei Steyr“, wiederholte Aleyna. „Wo ist das denn? Wir müssen das herausfinden.“
„Warum?“
„Weil, weil das wirklich wichtig ist. Das habe ich im Gefühl.“
„Dumme Mädchenidee!“, schimpfte Yasin. „Ich gehe jetzt zu Opa, der braucht mich vielleicht.“ Und schon war er weg.
„Ich bin kein dummes Mädchen“, dachte Aleyna. „Und es ist wichtig. Das spüre ich.“
Sie schaute sich um.
Da vorne standen Helfer aus dem Friedensland bei einem Rettungswagen.
Zögernd ging Aleyna auf sie zu.
Die zwei Männer lächelten sie an.
Aleyna hielt die Karte hin und fragte in ihrer eigenen Sprache: „Woher ist diese Karte? Wo ist das?“
Mit ihrem Daumen zeigte sie auf das Bild.
Einer der Männer nahm die Karte, sah sie sich an, drehte die Karte dann um, las die Zeilen, studierte die Briefmarke und den Poststempel, dann drehte er die Karte wieder um, zeigte sie dem anderen Mann, und dann fingen die beiden an zu reden und zu lachen.
„Was ist denn?“, fragte Aleyna.
„Englisch“, fragte der Mann.
Aleyna schüttelte den Kopf.
„Englisch“, rief der Mann lauter und einer der Wartenden kam zu ihnen herüber. Es war ein junger Mann.
„Yes“, sagte er freundlich.
Zwischen den Männern flogen die Worte hin und her.
„Was erzählen sie sich?“, dachte Aleyna, aber sie konnte sehen, dass die Karte nicht bloß eine alte, unwichtige Karte war, wie Opa und Yasin meinten. Nein ihr Gefühl war richtig gewesen. Diese Karte war wichtig für sie, so wichtig wie die Murmeln auf der Brücke.

Es dauerte eine Ewigkeit, dann hatte der junge Mann die Karte selbst in der Hand und fing an zu übersetzen.
„Diese Karte kommt aus einem Ort, der hier ganz in der Nähe liegt. Und der Bub, der diese Karte vor sechzig Jahren geschrieben hat, der lebt noch dort. Der Mann kennt ihn. Woher hast du diese Karte?“
„Mein Opa, mein Opa hat sie bekommen, als er klein war und er konnte nie lesen, was da drauf stand, aber er hat die Karte auch nie weggeworfen. Vielleicht“, Aleyna zögerte. Was wenn dieser nette junge Mann ihr Gefühl auch lächerlich fand? „vielleicht weil diese Karte einmal wichtig sein würde.“
Der junge Mann nickte ernst und da erzählte Aleyna ihm von den Murmeln aus derselben Schatzdose und wie diese dafür gesorgt hatten, dass sie Opa und Yasin wiedergefunden hatte. Und dass deshalb die Karte auch eine Bedeutung für sie haben könnte.“
Der junge Mann übersetzte alles, was sie gesagt hatte.
Die beiden Männer sprachen wieder miteinander in ihrer eigenen Sprache.

Plötzlich standen Opa und Yasin neben ihnen.
Opa schimpfte: „Wieso läufst du einfach weg. Ich habe dir doch gesagt, du sollst da drüben warten.“
Und Yasin schaute sie ganz finster an. Bestimmt hatte Opa auch mit ihm schon geschimpft.
„Opa. Ich habe etwas Wichtiges entdeckt“, fing Aleyna an.
„Nicht jetzt“, sagte Opa. „Wir kommen heute nicht mehr weg von hier. Wir sollten uns wieder einen Platz in der Halle sichern. Hier draußen ist es zu kalt.“
Er wollte Aleyna wegziehen.
„Warten Sie noch“, sagte der junge Mann. Er zeigte auf die beiden Männer. Einer telefonierte jetzt, dabei schauten sie zu Aleyna hinüber. Der andere Mann fragte den jungen Mann etwas.
„Ihr seid zu dritt?“, fragte dieser
„Ja“, rief Aleyna. „Opa, Yasin und ich.“

Was dann geschah, geschieht wohl nur dann, wenn es doch einen Dschinn gibt, dachte Aleyna ein paar Stunden später, als sie in einer warmen Stube saß. Oder wenn es Weihnachten ist und das Jesuskind einen Platz für sich selbst sucht. Denn in einem Friedensland ist es nicht so wie in Betlehem, wo die Türen damals verschlossen waren.

Und Helmut Hoflehner, der vor sechzig Jahren eine Ansichtskarte nach Aleppo geschickt hatte, schaute auf Opa Hamid, Yasin und das kleine Mädchen mit den großen, vertrauensvollen Augen, die bei ihm und seiner Familie am Weihnachtsabend am Tisch saßen.
Und da wusste er, dass diese Karte damals keine dumme Religionshausaufgabe gewesen war und dass eine Antwort manchmal sehr, sehr lange braucht und in einer ganz anderen Form kommen kann, als man es sich erwartet hatte.
Und als er nach dem Essen unter dem Baum das Evangelium vorlas, hatten die Zeilen von der Herbergssuche in seinen Ohren einen ganz anderen Klang und in seinem Herzen spürte er, wie Jesus diesmal greifbar nah bei ihm einen Platz gefunden hatte. Seine Augen wanderten zur Krippe. Dorthin hatte Aleyna die Karte gestellt, nachdem Helmut sie nach sechzig Jahren wieder gelesen hatte.
„Ich wohne in Christkindl. Der Name ist sehr lustig, weil Christkindl eigentlich das Jesuskind zu Weihnachten ist. Ich wohne also in einem Ort, wo es irgendwie immer auch Weihnachten ist“, sagte er sich den Text in Gedanken vor.
Dann schaute er zu Aleyna.
Er konnte mit dem Mädchen nicht reden, aber sie hatte den ganzen langen Weg von Aleppo hierher das Vertrauen gehabt, ein Friedensland zu finden, und seine Karte hatte sie bis in sein Haus geführt.
Jetzt, versprach er sich selbst, werde ich dafür sorgen, dass auch für Aleyna irgendwie immer Weihnachten ist. Ja, er Helmut Hoflehner, würde dafür sorgen, dass sie in Christkindl ein Zuhause fand, bis in ihrem Land wieder Frieden war.

Veröffentlicht unter Adventkalender

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1 Kommentar

  1. Bernhard Böhm

    Der schönste Adventkalender, den ich je gesehen habe – sehr berührend und ziemlich realistisch. Ich hoffe nur, dass es für viele Flüchtlinge letztlich positiv ausgeht und sie neue Freunde und ein neues Zuhause finden.
    Falls es eine Möglichkeit gibt, die ganze Geschichte als PDF zu bekommen, wäre ich Ihnen sehr dankbar.
    Liebe Grüße
    Bernhard Böhm
    bernhard.boehm@gmx.at

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