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Adventkalender – 1. Tag

Eine Karte wird geschrieben

Vor sechzig Jahren saß Helmut am Küchentisch und schrieb eine Karte. Genauer gesagt, er kaute an seiner Füllfeder und haderte damit, dass er eine Karte schreiben musste. Er hatte überhaupt keine Lust dazu. Aber es war eine Hausaufgabe. Eine Religionshausaufgabe. Dabei dürfte es so etwas gar nicht geben. In Religion eine Hausaufgabe! Das war unerhört.
Aber alle Viertklässler mussten eine Karte schreiben, etwas Nettes, einen Gruß aus Österreich an die weite Welt. Schwester Mathilde, die Lehrerin, hatte in der letzten Religionsstunde einen Korb voller Zettel mitgebracht, und jedes Kind musste einen ziehen. Auf jedem Stück Papier stand eine Adresse. Die Adresse eines fremden Kindes, das irgendwo wohnte und sich, so meinte Schwester Mathilde, sehr über eine Postkarte freuen würde. Genauer gesagt hatte sie erzählt, dass der Empfänger bestimmt einen meterhohen Luftsprung machen würde vor Freude, und bestimmt würden die Schüler auch Antwortkarten erhalten und dann einen ebensolchen Luftsprung vollführen.
Helmut bezweifelte das. Warum sollte ein fremdes Kind sich über eine Karte von jemandem freuen, den es gar nicht kannte. Und so ein fremdes Kind würde die Karte auch gar nicht lesen können, weil es die deutsche Sprache nicht verstand.

Helmut betrachtete den Zettel mit der Adresse. Hamid Nassarif, 13 Jahre alt, Al Afaghanystreet 262, Aleppo, Syrien.
Dieser Hamid war also drei Jahre älter als er. Aber wie er war und was er gerne machte, das verriet der Zettel nicht.
Helmut nahm seine Füllfeder aus dem Mund und übertrug sehr langsam die Adresse vom Zettel auf die Karte, während er noch immer überlegte, was er bloß diesem unbekannten Hamid berichten sollte.
Schließlich schrieb er: „Lieber Hamid. Ich heiße Helmut. Ich bin zehn Jahre alt und wohne in Christkindl. Das ist ein Ort in Oberösterreich. Der Name ist sehr lustig, weil Christkindl eigentlich das Jesuskind zu Weihnachten ist. Ich wohne also in einem Ort, wo es irgendwie immer auch Weihnachten ist. Die Karte zeigt den Hauptplatz von Christkindl. Lieber Grüße, Helmut Hoflehner.“
Jetzt war die Karte beinahe voll und er musste seine Adresse in winzig kleiner Schrift ganz unten am Rand hin kritzeln. Es war ziemlich unleserlich, aber Helmut rechnete nicht damit, dass Hamid ihm eine Antwort schicken würde. Warum auch. Dieses fremde Kind hatte bestimmt keine Religionsschwester, die ihm eine solche Hausaufgabe gab.

Veröffentlicht unter Adventkalender

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2 Kommentare

  1. Elisabeth Führer

    Vielen Dank für den Kommentar, das freut uns sehr!
    Rachel van Kooij schreibt seit vielen Jahren jedes Jahr einen Adventkalender für unseren Weihnachtsmarkt, der dann im folgenden Jahr auf unserer Homepage erscheint!

    AntwortenAntworten
  2. Bernhard Böhm

    Eine sehr liebe Idee, ich bin schon gespannt, wie es weiter geht …
    Liebe Grüße
    Bernhard, Pfarre Machstraße in Wien, Leopoldstadt

    AntwortenAntworten

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